Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Durch das Ilsetal zum Kruzifix
11.10.2023
Es könnte der letzte sonnige Herbsttag werden – möglicherweise. Für danach hatte der Wetterbericht keine freundliche
Prognose mehr parat. Also werde ich diesen Tag noch einmal nutzen, meinen Körper zu strapazieren. Weit oben im Harz
steht ein eisernes Kruzifix einsam an einer Wegkreuzung auf 595 Metern. Angeblich schon seit dem 17. Jahrhundert.
Beim Installieren einer unnatürlichen Grenze stand das Kreuz im Wege und wurde „entsorgt“. Inzwischen kann man es
dort wieder finden und außerdem einen Stempel abholen. Genau das habe ich mir heute vorgenommen.
Am Vormittag drängt sich die Sonne nur mühsam durch die Wolken und durch das Blätterdach im Tal der Ilse. Die
plätschert gemächlich den wenigen Wanderern entgegen. Ich lasse mir Zeit, möchte das Flüsschen beobachten und
vielleicht ein paar Steine finden, die ich bemalen könnte. Tatsächlich finde ich einige direkt am Wasser. Wenige Minuten
später hinterlasse ich am Platz der Steintürme einen von mir bemalten Stein. Als ich Mitte September dort entlang ging,
war hier alles noch von abgebrochenen Bäumen zerstört (
HIER
). Inzwischen stehen schon viele kleine und große
Steintürme. Einer trägt jetzt meine bunte Steinkappe. So ein kleiner Stein kann mehr Glück weitergeben, als man sich
vorstellen möchte.
Wenige Minuten später hat es die Sonne geschafft. Sie zaubert wieder leuchtende Lichtspiele am Lauf des Flusses.
Schon tragen einige Bäume goldenes Laub, wieder andere prahlen mit roten Blättern und lassen sie vom Wind durch die
Luft bis ins Wasser pusten. Von diesem Schauspiel kann ich gar nicht genug bekommen. Ich lasse Zeit einfach Zeit sein,
genieße die Spiele der Natur, die man vielleicht erst in späten Lebenstagen wirklich entdecken und zu verinnerlichen
vermag. Letztlich ist das auch meine Motivation, die Wälder und Höhen im Harz zu entdecken. Der Weg ist das Ziel,
denn so wird aus dem Augenblick ein großes Erlebnis. Das Tal der Ilse ist sicher einer dieser zauberhaften Flecken, um
in der Natur zu sich selbst zu finden. Das habe ich erst hier im Harz lernen und erleben dürfen. Hier bin ich im Reinen
mit mir.
Am Wanderkilometer drei zweigt der Aufstieg zu den Ilsefällen ab. Ich hingegen wende mich diesmal nach rechts,
benutze jetzt die Forstrasse, die mich zum Kruzifix bringen wird. Vor mir liegen weitere zweieinhalb Kilometer und es
geht deftig, ohne Unterbrechung, nur bergauf. Bald spüren meine Beine diesen Aufwärtstrieb und mein Kreislauf kommt
auch in Fahrt. Eine ganze Stunde lang hinein in diese Talkerbe und stetig der Höhe entgegen. Die Forststrasse scheint
sich vor mir endlos lang zu dehnen. Ein einziges Mal werde ich von einem Mountainbiker überholt und auch der muss
mächtig strampeln. Doch allmählich komme ich dem Blau des Himmels näher und die Berghänge lichten sich, geben
den Blick auf die abgestorbenen kahlen Fichten frei. So gespenstisch das auch im ersten Moment anmuten mag, das
frische neue Grün ist nicht mehr zu übersehen. Man muss nur per pedes hierher wandern, um die Veränderungen in der
Natur zu sehen – und dann bin ich plötzlich am Kruzifix.
Im ersten Moment bin ich etwas enttäuscht, so klein und unscheinbar wirkt das Kreuz auf mich. Das steht etwas
versteckt an einer Weggabelung neben einer Sitzgruppe. Dahinter lockt der Brocken im prallen Schein der Sonne.
Gegenüber versteckt sich die Schutzhütte mit dem begehrten Stempel. Der Wind weht gehörig, aber die Luft ist (noch)
warm. Es ist Punkt Zwölf, als der Stempel im Heft seinen Abdruck hinterlässt. Zeit für eine kurze Rast, um den Beinen
etwas Ruhe zu geben. Im Stempelkasten hinterlasse ich einen zweiten bunten Stein, lege ihn neben einen, den jemand
dort hinein gelegt hat. Genau so bin auch ich auf diese schöne Idee gestoßen.
Auf einem ehemaligen Postenweg der DDR-Grenze gehe ich weiter. Der windet sich als grünes Band durch die Natur.
Darauf zu wandern fühlt sich eher eigentümlich ungemütlich an. Dafür entschädigen mich das Erleben der Landschaft
und der Blick zurück zum Brocken für den unangenehmen Betonweg. Zum Wandern gefallen mir Waldwege viel besser.
Nach einem reichlichen Kilometer kann ich das Band aus Beton verlassen und laufe nun auf einem Schotterweg. Auch
nicht viel besser. Der führt mich von der Höhe in eine Talsenke und auf der anderen Seite wieder heraus: runter und
wieder hoch. Meine Knochen jubeln, meine Füße streiken! „Da hilft kein Jammern“, singt eine mir bekannte Blues-
Kapelle, doch auch meine Füße haben keine Alternative: außer weiter.
Auf der Höhe der anderen Talseite stehen mehrere riesige Gesteinrocken am Hang verstreut. Die sind mir bestens
bekannt, seitdem ich in der Nähe, aus dem Tal mit dem schwarzen Graben kommend, in Richtung Froschfelsen
unterwegs war (
HIER
). Genau an dieser Stelle setze ich heute meine Wanderung fort. Noch einmal gehe ich zur
Westerklippe mit der herrlichen Aussicht zum Brocken und von hier aus bis zum Froschfelsen. Beide hatte ich im
September bereits besucht. Heute gönne ich mir am Frosch aus Stein nach eineinhalb Stunden eine zweite kurze Rast.
Vor dem, was mich dann erwarten wird, habe ich großen Respekt, denn es soll – so sagte man mir – steil und steinig
abwärts und zurück ins Ilsetal gehen.
Etwas gestärkt, aber mit elastischen Knochen mache ich mich bereit zur letzten Etappe. Am Froschfels vorbei führt ein
schmaler Pfad bergauf in einen Wald aus Birken. Schon bald erreiche ich die höchste Stelle, von der es von jetzt an nur
noch eine Richtung gibt – nach unten. Dieser Pfad entpuppt sich als Schotterweg, zwischen Birkenstämmen hindurch,
steil in die Tiefe. Ohne meinen Wanderstab wäre ich hier aufgeschmissen. Mir kommt eine völlig verschwitzte
Wandergruppe entgegen. Da ahne ich, dass es auch für mich, und abwärts, noch dicke kommen wird. Doch zunächst
erreiche ich eine Lichtung mit Ausblick zum Brocken. Von hier führt ein ganz normaler Wanderweg weiter, bis ich nach
ein paar Minuten vor einem Wegweiser stehe. Hinab ins Ilsetal führt jetzt nur noch ein schmaler Trampelpfad und der
sieht wieder verdammt steil aus. Die Alternative, den Wanderweg weiter zu nutzen, würde mich um den ganzen Berg
führen. Diesen Weg lief ich, als ich das erste Mal vom Froschfelsen kam. Heute ist mir diese Strecke viel zu lang, ich
wähle den quälenden, aber kürzeren Trampelpfad.
Schon nach kurzer Zeit weiß ich, der schmale Pfad führt in Serpentinen, an den Hang geschmiegt, in die Tiefe, also
rund 250 Meter, vom Berg ins Tal. Das ist heftig und geht in die Knochen. Jeder Tritt muss sicher sein, ansonsten sitze
ich sofort auf dem Arsch oder wahrscheinlich auch ein paar Meter tiefer im Gestrüpp. Ich laufe sehr vorsichtig, aber
nicht langsam, denn Ilsenburg ist noch sehr weit unten zu sehen. Da will ich hin, aber die Serpentinen ziehen und
ziehen sich. Der Blick gegenüber zu den kahlen Hängen der anderen Talseite verrät mir, wie weit oben ich noch bin.
Manche Stellen sehen beängstigend schmal aus, manchmal liegen Baumstämme quer und mir schmerzen inzwischen
gleich mehrere Knochen, vor allem aber der Rücken, der die Stöße bei jedem Schritt auffängt. Trotzdem ist mir jede
Chance, etwas vom wunderschönen Tal zu erhaschen, sehr willkommen. Ich weiß, den Weg werde ich niemals wieder
nutzen und dennoch strahlt er eine eigenartig wilde Faszination auf mich aus, während ich mich seinem Ende entgegen
hoffe und quäle.
Als ich schließlich unten, in der Nähe des Parkplatzes, den Wald verlasse und wieder die Straße mit zitternden Beinen
betrete, bin ich froh. Keine Ahnung, ob ich zehn oder mehr Serpentinen durchlaufen habe. Spätestens ab der Mitte kam
ich mir vor wie „Schmidtchen Schleicher“, der den Berg abwärts schleicht. Eine sehr besondere Erfahrung, zumal mit
künstlichem Hüftgelenk und das hat spätestens heute seine Bewährungsprobe bestanden. Ich bin stolz und glücklich,
mindestens zwölf Kilometer am Stück und mehrere hundert Meter, mal hoch, mal runter, bewältigt zu haben. Ich denke,
jetzt bin ich ein Harzer. Am Tag danach öffnet der Himmel über dem Harz seine Schleusen – alles richtig gemacht.